Gerne machen wir auf den Fachaufsatz von Rechtsanwalt Dr. Josef Hingerl aufmerksam mit dem Titel: „Einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht und Schulkinder – Verfassungskonforme Auslegung der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 IfSG“.

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Einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht und Schulkinder – Verfassungskonforme Auslegung der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 IfSG

   

Eltern, die Ihre Schulkinder nicht gegen Masern impfen lassen wollen, sehen sich durch das Masernschutzgesetz grundsätzlich in ihrer durch Art 6 GG gedeckten Haltung bestätigt: Schulpflicht geht vor Impfpflicht. Sie empfinden es als eine unzulässige indirekte Impfpflicht, wenn verwaltungsrechtliche Zwangsmaßnahmen und Bußgelder gegen sie erlassen werden, weil sie eine Nachweispflicht nicht erfüllen, die darin besteht, dass von ihnen etwas Unmögliches verlangt wird. Das ist ein Impfnachweis, ein Nachweis der Immunität oder ein Nachweis einer Kontraindikation. Ihre Kinder sind aber gesund und sie wollen ihre Kinder gerade nicht impfen lassen. Ein diesbezüglicher „Nachweis“, eine diesbezügliche klare Willenserklärung wird aber nicht akzeptiert, weder von den Behörden noch von den Gerichten.

 

Diese von den Eltern empfundene Ungerechtigkeit gäbe es nicht, wenn folgende Erklärung der Behörde gegenüber ausreichen würde: „Unser Kind ist nicht geimpft.“

Zu diesem der bisherigen Handhabung durch Gesundheitsämter und Rechtsprechung widersprechenden Ergebnis kommt man aber über eine verfassungskonforme Auslegung des Masernschutzgesetzes. Ausgangspunkt ist dabei die strikte Trennung der Frage nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, also zum einen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht selbst und zum anderen der Nachweispflicht, die nicht als Impfpflicht ausgestaltet ist. Es ist erstaunlich, dass diese grundlegende Klärung nach 5 Jahren Gesetzesanwendung trotz vielfacher gerichtlicher Versuche noch nicht gelungen ist. Das zeigt sich daran, dass nach wie vor eine große Verärgerung in der Bevölkerung über eine offensichtlich ungerechte Regelung besteht und Rechtsmittel weiter dagegen ergriffen werden. Über den hier aufgezeigten Ansatz einer verfassungskonformen Auslegung der Nachweispflicht gelingt es, die gesetzgeberische Zielsetzung mit den Rechten der Eltern schulpflichtiger Kinder in Einklang zu bringen.

 

1. Gesetzgeberische Ausgangslage und Zukunft der einrichtungsbezogenen Masernimpfpflicht de lege ferenda und neue Ausgangslage für die Rechtsprechung

 

Das vom damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn vorgelegte Masernschutzgesetz wurde am 14.11.2019 vom Bundestag beschlossen. Die Zustimmung des Bundesrates erfolgte am 20.12.2019. Das Gesetz trat am 01.03.2020 in Kraft.

 

Im Vorfeld schreibt der damalige Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler am 25.9.2017 in der Ärztezeitung, eine Impfpflicht würde das Masernproblem nicht lösen, sie wäre „eher kontraproduktiv“.

 

Es ist nicht erstaunlich, dass sich auch hier der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn gegenüber der Fachbehörde, dem Robert Koch-Institut, mit seinem Gesetzesentwurf durchsetzte. Das war auch später in Corona-Zeiten der Fall, wie zwischenzeitlich den RKI-Protokollen entnommen werden kann.

 

Es mag Aufgabe des neuen Bundestages sein, über die derzeit geltende einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht für die Zukunft zu entscheiden und gegebenenfalls voll entfallen zu lassen. Das wäre naheliegend, weil nach der Definition der WHO die Masern in Deutschland ausgerottet sind. Das ist der Fall, wenn es drei Jahre in Folge weniger als einen Fall je 1 Mio. Einwohner gegeben hat (2021:10; 2022:15; 2023: 57). Dann wäre das hier behandelte Thema insgesamt schon erledigt.

 

Die Behörden und Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht sollten unabhängig von der gesetzgeberischen Zukunft des Masernschutzgesetzes die bisherigen Argumente neu überprüfen, weil die Feststellungen des BVerfG in der Entscheidung vom 21.7.2022 (-1BvR 469-472) nicht mehr tragen, wonach die „Wirksamkeit einer Impfung …wissenschaftlich gut erforscht“ ist. Bisher ist aber kein einziger Kinder-Impfstoff valide auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet worden. Damit kann man auch nicht mehr von „Standards medizinischer Wissenschaft“ sprechen, insbesondere nicht mehr beim RKI in der Zeit nach 2020, was die offengelegten RKI-Protokolle beweisen.

 

2. Derzeitige verfassungsrechtliche Situation zur einrichtungsbezogenen Masernimpfpflicht

 

2.1 Kita und einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht

 

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 21.07.2022 entschieden (- 1 BvR 469- 472/20), dass die Abweisung von Kindern in Kindertagesstätten, die nicht geimpft sind, nicht immun sind und bei denen keine Kontraindikation besteht, aufgrund verfassungskonformer Auslegung gerechtfertigt ist. Das soll hier nicht weiter behandelt werden.

 

2.2 Schulen und einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht

 

Eine grundsätzliche Entscheidung zu schulpflichtigen Kindern in Schulen ist zunächst nicht notwendig, weil es hierzu eine gesetzliche Regelung gibt. Nach § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG geht die Schulpflicht der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor:

 

„Einer Person, die einer gesetzlichen Schulpflicht unterliegt, kann in Abweichung von Satz 4 nicht untersagt werden, die dem Betrieb einer Einrichtung nach § 33 Nummer 3 dienenden Räume zu betreten.“

 

Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einer indirekten Impfpflicht aufgrund der geforderten Nachweispflicht gibt es noch nicht. Sie ist auch nicht notwendig, weil Behörden und Gerichte selbst zu einer verfassungskonformen Auslegung kommen können. Generell wäre es erfreulich, wenn Behörden und untere Gerichte wieder die Grundrechte bei der eigenen Arbeit entdecken und danach entscheiden würden. Ein langes Warten auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verhärtet nur weiter die Fronten zwischen Eltern und Behörden. Mut zu einer allen gerecht werdende Entscheidung reicht. Das Bundesverfassungsgericht gibt hierzu sogar einen Anstoß (siehe unten 5.).

 

3. Indirekte Impfpflicht nach § 20 Abs. 9 IfSchG verfassungswidrig

 

Obwohl die vorzitierte gesetzliche Regelung, Schulpflicht vor Impfpflicht eindeutig ist, gehen Verwaltungsbehörden sowohl im Rahmen des Verwaltungszwangs oder auch im Rahmen von Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Eltern von schulpflichtigen Kindern vor und verhängen Zwangsgelder und Bußgelder, wenn die Eltern nicht nachweisen können, dass ihre Kinder geimpft sind, immun gegen Masern sind oder eine Kontraindikation für die Impfung besteht. Das wird von Amtsgerichten bis hin zur Rechtsmittelinstanz und von Verwaltungsgerichten regelmäßig so akzeptiert.

 

Die betroffenen Eltern können nicht verstehen, weswegen ihnen zum einen sowohl im Rahmen von Art. 6 GG als auch Art. 2 GG zugesichert ist, dass sie völlige Impffreiheit bezüglich der Masernimpfung haben, zum anderen sie aber trotz dieses grundgesetzlich mehrfach gewährleisteten Rechts sanktioniert werden ob einer Nachweispflicht, die sie nicht einhalten können. 

 

3.1 Explizite Bejahung der indirekten Impfpflicht für schulpflichtige Kinder durch Behörden 

 

In Bayern ist festzustellen, dass Behörden mit unterschiedlicher Energie den Eltern wegen Nichterfüllung der Nachweispflicht auf den Leib rücken. Vielen Beamten ist aber offensichtlich unwohl bei der Sanktionierung der nicht erfüllbaren Nachweispflicht. Anders sind die sehr unterschiedlichen Bearbeitungszeiten nicht zu erklären. Ähnliche Beobachtungen gab es schon bei der einrichtungsbezogenen Coronaimpfpflicht. Schon im Sommer 2022 war damals deutlich erkennbar, dass Verstöße kaum mehr verfolgt wurden nach den ersten Klagen zu den Verwaltungsgerichten. Man hörte auch, dass „von ganz oben“ die Information kam, man solle die Verfolgung nicht forcieren. Die Regelung lief dann auch schon Ende 2022 aus. 

 

 Bedenken bei Behörden in Verbindung mit anschließenden gerichtlichen Verfahren könnten einen Anstoß für alle Beteiligten geben, im Sinne des vorliegenden Vorschlags umzudenken.

 

3.2 Explizite Bejahung der indirekten Impfpflicht für schulpflichtige Kinder durch Gerichte

 

Die Gerichte scheinen landauf und landab die indirekte Impfpflicht zu bejahen, wobei es aber zu unterschiedlichen Begründungen kommt. Eine Vorlage nach Art 100 GG wegen Verfassungswidrigkeit wurde bisher nicht festgestellt.

 

Der BayVGH will die offensichtliche Ungerechtigkeit, die zumindest der Bürger verspürt, über die Verwaltungsvollstreckung kaschieren. Dabei vollführt er einen ziemlichen „Eiertanz“, wie ein Kläger vom VGH München (Urteil vom 5.12.2024 – 20 BV 24.1343) offen zitiert wird:

 

„Die mittlerweile abenteuerliche Konstruktion des BayVGH zur Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Nachweispflicht lasse sich nur noch als Eiertanz bezeichnen zum vermeintlichen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Eltern sowie den politischen Vorgaben durch das Gesetz.“

 

Hier wird von einem „vermeintlichen Ausgleich“ gesprochen. Man sieht also keinen fairen Ausgleich. Es kann auch sein, dass Behörden und Gerichte die politischen Vorgaben des Gesetzgebers falsch interpretieren. 

 

Der VGH betont selbst immer wieder, dass der Verzicht auf Impfung möglich bleiben muss (a.a.O. Rn. 40). Andererseits bejaht der BayVGH die indirekte Impfpflicht als eine mit Verwaltungszwang durchsetzbare Pflicht. Aber dann möchte er die indirekte Impfpflicht im Rahmen des Verwaltungszwangs doch wieder begrenzen. Die Ungerechtigkeit, die der Bürger spürt, führt offenbar auch bei Gericht zu Bedenken:

 

„Vor diesem Hintergrund ist die im Gesetz angelegte…selbständige Vollstreckbarkeit einer behördlichen Anordnung der Vorlage eines Nachweises nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG aus systematischen, teleologischen und verfassungsrechtlichen Gründen … zu begrenzen.“

 

Der Senat ruft also selbst nach dem Rettungsanker einer verfassungskonformen Auslegung. Diese soll sich aber nur auf die Vollstreckung beziehen. Ersatzzwangshaft soll dabei unverhältnismäßig sein. Warum aber? Beim Millionär würde doch dieses Zwangsmittel am besten wirken. Bei der alleinerziehenden Mutter mit Bürgergeld reduziert sich das Verwaltungsermessen wahrscheinlich auf Null. Eine Lösung auf dieser Ebene muss scheitern. Der Eiertanz entlarvt sich hier selbst.

 

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg erklärt wie der BayVGH in seiner Entscheidung vom 01.03.2024 (OVG 1 S 94/23) ebenfalls ganz offen, dass der Gesetzgeber diese indirekte Impfpflicht vorgesehen habe und findet das für richtig:

 

„Das Gesetz beschränkt sich nicht darauf, dem Gesundheitsamt einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Personen in den genannten Einrichtungen nicht gegen Masern geimpft sind und keine Immunität dagegen besitzen. Es verlangt vielmehr in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG ausdrücklich, dass die dort genannten Personen einen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen, sofern keine Kontraindikation vorliegt (Satz 4 der Norm).“

 

Der Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes sei also ausdrücklich von einer grundsätzlich bestehenden „Impfpflicht“ bzw. „verpflichtenden Impfung“ ausgegangen. Zwangsgeld und Geldbußen habe der Gesetzgeber gerade hierfür vorgesehen, um eine Erhöhung der Impfquote zu erreichen. Und weiter bestärkend:

 

„Auch die Systematik des Gesetzes lässt erkennen, dass jedenfalls in Fällen, in denen – wie hier – ein Betreuungs- oder Unterbringungsverbot für Ungeimpfte ausscheidet, dem Anliegen des Gesetzgebers durch Androhung von Zwangsgeldern Rechnung getragen werden kann.“

 

Das OVG plagt also kein schlechtes Gewissen, wie den BayVGH, der in der Verwaltungsvollstreckung ungerechte Ergebnisse noch korrigieren will. Das OVG beruft sich sogar auf die Genese des Gesetzes. Die Nachweispflicht habe nicht nur „appellativen Charakter“. Sie muss also ohne Wenn und Aber durchgesetzt werden.

 

Aber in einem Rechtsstaat muss Klarheit herrschen bei dem, was er von seinem Bürger verlangt. Die indirekte Impfpflicht muss vom Bürger aber geradezu als unehrlich und hinterhältig wahrgenommen werden.

 

Wir müssen tatsächlich bei der Genese des Gesetzes anfangen, wenn das Problem gelöst werden soll, aber eben nicht erst bei der Verwaltungsvollstreckung, sondern bei der Nachweispflicht selbst. Beides ist strikt voneinander zu trennen.

 

Im Bußgeldverfahren hält das Bayerische Oberste Landesgericht die indirekte Impfpflicht in seinem Beschluss vom 28.03.2024 (201 ObOWi 141/24) ebenso für verfassungsgemäß wie die Verwaltungsgerichte. Es wird zwar festgestellt, dass es eine Impfpflicht für Schülerinnen und Schüler nicht gibt; gleichwohl lässt das BayObLG die indirekte Impflicht zu mit der Folge, dass die Bußgelder rechtmäßig sind. Aber auch dieses Gericht differenziert nicht zwischen der grundsätzlichen Frage, ob eine einrichtungsbezogene Impfpflicht als solche  verfassungskonform ist und der Frage, ob die Nachweispflicht bei Schülern verfassungsgemäß ausgestaltet ist. Das Problem entsteht nur deshalb, weil der Gesetzgeber die schulpflichtigen Kinder von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ausgenommen hat. Alle anderen Beteiligten, Lehrer, Hausmeister, Erzieher, Reinigungskräfte müssen sich zwar ebenfalls nicht impfen lassen. Sie können woanders tätig sein. Das ist ähnlich wie bei den Kindertagesstätten, wo die Eltern ihre Kinder anderweitig unterbringen oder zu Hause lassen können. Damit wird die indirekte Impfpflicht umgangen.

 

Könnte es sein, dass dem Gesetzgeber erst spät im Gesetzgebungsverfahren eingefallen ist, dass die Schulpflicht der Impfpflicht vorgeht und er dann handwerklich vergessen hat, das bei der Nachweispflicht klar zu regeln?

 

3.3. Zwischenfeststellung

 

Die einrichtungsbezogene Masernimpfpflicht ist nach der bisherigen Rechtsprechung verfassungsgemäß, was das Bundesverfassungsgericht und auch die vorgenannten Gerichte feststellten. Darüber wurde genügend geschrieben. Aber zum einen tragen die bisherigen angeblichen wissenschaftlichen Erkenntnisse schon nicht mehr die Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, weil die „Standards medizinischer Vernünftigkeit“ nicht mehr eingehalten sind. Zum anderen ist die Nachweispflicht materiellrechtlich gesondert zu betrachten, weil ihr gegenübersteht das verfassungsgemäß geschützte Recht der Eltern, ihre schulpflichtigen Kinder impffrei zu betreuen.

 

3.4 Lasche Haltung des Gesetzgebers bei verpflichteten Erwachsenen, überzogene Haltung bei schulpflichtigen Kindern

 

Behörden und Gerichte ziehen stringent eine Auslegung zu Lasten schulpflichtiger Kinder durch mit Zwangsgeld und Bußgeld, obwohl der Gesetzgeber ein Betreten der Einrichtungen ohne Impfung erlaubt.

 

Andererseits legt der Gesetzgeber denjenigen gegenüber, bei denen klar eine einrichtungsbezogene Impfpflicht gesetzlich geregelt ist, eine lasche Haltung an den Tag, die schon an der Ernsthaftigkeit des Gesetzesvorhabens zweifeln lässt.

 

Personen, die mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 01.03.2020 schon eine Impfung, eine Immunität oder eine Kontraindikation nachweisen mussten, lässt der Gesetzgeber über 2 Jahre in den Einrichtungen ohne Konsequenzen sich aufhalten und nimmt damit über einen langen Zeitraum eine von ihm selbst so stark befürchtete Ansteckung in Kauf. Wie ist diese direkte Impfpflicht im Vergleich zu der hier kritisierten indirekten Impfpflicht zu bewerten? Der Gesetzgeber nimmt seine eigene Zielsetzung nicht ernst.

 

Aber selbst die Sanktionsmaßnahmen bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht sind halbherzig. Erst kommt eine Fristsetzung bei einer Person, die sich von vorneherein nicht in der Einrichtung aufhalten dürfte. Dann wird sie zu einer Beratung geladen. Sodann ist sie zu einer “Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern aufzufordern“. Dann kann auch noch eine ärztliche Untersuchung angeordnet werden. Und erst zum Schluss rafft sich der Gesetzgeber dazu auf, das Betretungsverbot auszusprechen, wozu er vom ersten Augenblick an nach der Zielsetzung des Gesetzes verpflichtet ist. So ernst nimmt es der Gesetzgeber auch hier nicht. Und den schulpflichtigen Kindern gegenüber dürfte eine Aufforderung zur “Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern“ schon gar nicht zulässig sein, wenn ein Betreten ohne Impfung rechtmäßig ist.

 

Diese unterschiedliche Handhabung von klaren und angeblichen Pflichten erhöht die Sensibilität bei der Prüfung von Sinn und Zweck der Nachweispflicht und deren inhaltlicher Gestaltung. 

 

3.5 Die Systematik des Gesetzes zeigt, dass es keine indirekte Impfpflicht gibt

 

An erster Stelle steht die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Wenn diese bei schulpflichtigen Kindern nicht besteht, ist das eine Ausnahme von der Impfpflicht. Damit müssen denklogisch schon alle halbherzigen Zwangsmaßnahmen ausgeschlossen sein. Der Gesetzgeber hat sich seinen Bürgern gegenüber klar zu entscheiden.

 

3.6 Trennung von materiellem Recht und Vollstreckungsrecht

 

 Die Lösung liegt darin, dass die Nachweispflicht nicht in der Verwaltungsvollstreckung verfassungsrechtlich zu prüfen ist, sondern schon dort, wo sie gegenüber Eltern mit schulpflichtigen Kindern angeordnet ist. 

 

3.6.1 Verfassungsrechtlich gesonderte Prüfung der Nachweispflicht

 

Es ist zu einfach und zu kurz gedacht, aus der grundsätzlichen Bejahung der Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht durch das Bundesverfassungsgericht auf die Zulässigkeit der indirekten Impfpflicht bei schulpflichtigen Kindern über die Nachweispflicht zu schließen.

 

3.6.2 Unterschied zwischen Kindertagesstätten und Schulen

 

Nach dem BayObLG bestünde in der Beurteilung „kein maßgeblicher Unterschied“ (a.a.O., Rn. 10). Aber der entscheidende Unterschied wurde vom BVerfG doch darin gesehen, dass die Kinder nicht gezwungen sind, in Kindertagesstätten zu gehen. Das war die Rettung vor der Verfassungswidrigkeit. Und bei den Schulen erklärt der Gesetzgeber ganz klar, dass Schulpflicht vor Impfpflicht geht. Da bleibt kein Raum mehr für eine halbschwangere Impfpflicht.

 

3.6.3 Welche Ziele werden mit der Nachweispflicht verfolgt?

 

Der Grundfehler der derzeitigen Handhabung der für die Bürger als ungerecht empfundenen Sanktionierung liegt darin, dass nicht nach dem Sinn und Zweck der Nachweispflicht gefragt wird, sondern von vorneherein davon ausgegangen wird, die Nachweispflicht diene der Ausrottung der Masern und so laufen alle bisherigen verfassungsrechtlichen Prüfungen auf der falschen Schiene. 

 

Das OVG Berlin -Brandenburg spricht in der vorgenannten Entscheidung einen weiteren  Sinn und Zweck der Nachweispflicht an. Es sieht ihn auch darin, „dem Gesundheitsamt einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Personen in den genannten Einrichtungen nicht gegen Masern geimpft sind und keine Immunität dagegen besitzen“. Nur meint es dann, die Sanktionierung zeige eben, dass der Gesetzgeber die Nachweispflicht mit Zwang durchsetzen wollte. Das gilt generell bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Hat das der Gesetzgeber übersehen.

 

Eine Nachweispflicht ist zuallererst eine Informationspflicht. Das zeigt auch die Genese des Gesetzes. Eine Impfpflicht ist dagegen ein direkter Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechte.

 

Natürlich ist das „Ziel des Gesetzes“ der „bessere Schutz vor Maserninfektionen“ (vgl. Begründung Bt- Drucksache 19/13452 S. 16). Dazu führen aber mehrere Wege. Immer wieder ist hier festzuhalten, dass der Gesetzgeber sich für eine allgemeine Impfpflicht nicht entschieden hat, die die Direttissima zur Ausrottung der Masern darstellen könnte. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht stellt nur eine zahlenmäßig gering wirkende Maßnahme dar. Eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wäre sicher wirksamer.

 

Im „wesentlichen Inhalt des Entwurfs“ (a.a.O.) finden sich zwei Säulen, wie das Ziel erreicht werden soll. Zum einen, eine „verpflichtende Regelung“, mit der „der Impfschutz verbessert“ werden soll und zum anderen, als zweite Säule, flankierende Maßnahmen zur Information, um dadurch eine erhöhte Impfung der Bevölkerung zu erreichen. Diese finden sich vielfach im Entwurf:

 

„Zudem sollen praktische Barrieren abgebaut werden, um die Umsetzung von Impfempfehlungen zu vereinfachen und so zu einer generellen Verbesserung des Impfschutzes der Bevölkerung zu kommen“ (a.a.O. unter I am Ende).

„Schließlich werden beim Robert Koch – Institut (RKI) eine Mortalitäts- und eine Impfsurveillance vorgesehen (a.a.O. unter II am Ende).

 

Allein schon an diesen beiden Zitaten kann man ablesen, dass „Impfempfehlungen“ und Informationsgewinn zur Erreichung des Zieles ebenso geeignet sind. Damit bleibt kein Raum für eine indirekte Impfpflicht. Die Nachweispflicht wird auf den Wortlaut, den Nachweis, eben begrenzt. Der Gesetzgeber muss Klarheit schaffen. Unsicherheiten gehen zu seinen Lasten und nicht zu Lasten des Bürgers.

 

3.6.4 Nachweispflicht ist ungeeignet und unverhältnismäßig als Impfpflicht

 

Durch die geforderte Nachweispflicht selbst kann keine Impfung erreicht werden. Insofern ist die Nachweispflicht schon nach verfassungsgemäßer Prüfung nicht geeignet, den hier überhaupt schon nicht beabsichtigten Zweck herbeizuführen.

 

Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Nachweispflicht als verfassungsmäßiger Zweck einer indirekten Impfpflicht gerechtfertigt wäre, würde die derzeitige Regelung, also einen Informationsnachweis zu bekommen, um zu wissen, wer geimpft ist, nicht erfüllt werden können. Denn wenn der Bürger Verwaltungszwang und Bußgelder aussitzt, hat der Staat immer noch nicht die Information, welchen Status der betroffene Schüler hat.

 

Etwas Unmögliches vom Bürger zu verlangen ist unverhältnismäßig und verfassungswidrig.

 

Das Rechtsstaatsprinzip in der Form der Rechtssicherheit verlangt vom Staat, dass er nicht etwas Unmögliches vom Bürger fordert. Dieser Rechtssatz zieht sich durch unser ganzes Rechtssystem. Er wird hier verletzt.

 

3.6.5 Anstiftung zu Straftaten

 

Durch den ausgeübten Verwaltungszwang und die Drohung mit Bußgeldern wird der Bürger zusätzlich vom Staat dazu angestiftet, sich bei Ärzten „Impfunfähigkeitsbescheinigungen“ ausstellen zu lassen, obwohl er das nicht will. Er will sein Kind gerade deshalb nicht impfen lassen, weil es völlig gesund ist und er das Risiko des Impfens höher einschätzt als das Risiko der Masernerkrankung. Darin wird er von Fachleuten auch bestärkt. Und der Gesetzgeber verlangt auch nicht stringent die Impfung. Auch er sieht offenbar das Risiko.

 

Der ohnmächtige Bürger versucht wegen der nicht erfüllbaren Nachweispflicht dennoch oft, Bescheinigungen vorzulegen. Die Ärzte sind hier gebrannte Kinder aus der Coronazeit. Denn dort wurden bereits über 1000 Ärzte bei einer vergleichbaren Interessenlage zu teilweise mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Und die Ermittlungsverfahren gegen die Betroffenen Bürger als Anstifter laufen ebenfalls noch. Auch hier sieht man, wie eine unausgegorene gesetzliche Regelung zu rechtspolitischen Verwerfungen führen kann.

4. Lösung durch verfassungskonforme Auslegung der Nachweispflicht

 

Eine klare Regelung zur Lösung der Unsicherheit könnte in Abs. 9 in einer Ziff. 4. wie folgt aufgenommen werden:

 

„Bei schulpflichtigen Kindern reicht auch eine Erklärung der Erziehungsberechtigten, dass das Kind nicht geimpft ist.“

 

Solange diese klare gesetzliche Formulierung fehlt, ist zu klären, ob eine alle Beteiligten befriedigende Lösung über eine verfassungskonforme Auslegung der Nachweispflicht erreichbar ist.

 

Eine Notwendigkeit besteht schon deshalb, weil die bisherige Auslegung bei schulpflichtigen Kindern verfassungswidrig ist, wenn Zwangsgelder und Bußgelder erlassen werden bei Fehlen der drei explizit genannten Nachweise, die nicht erbracht werden können.

 

Wenn Sinn und Zweck der Nachweispflicht die Informationsbeschaffung über den Impfstatus der Betroffenen ist, so reicht eine einfache Erklärung der Erziehungsberechtigten, dass das schulpflichtige Kind nicht geimpft ist. Diese Auslegung ergibt eine Gesamtschau aus Abs. 9 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 12 Satz 4 und 5 IfSG.

 

Der vom OVG Berlin-Brandenburg schon angesprochene Überblick, der den Gesundheitsämtern verschafft werden soll, findet sich auch in den Gesetzgebungsmaterialien.

 

So unterteilt der Ausschuss für Gesundheit (14. Ausschuss) in seiner Beschlussempfehlung und im Bericht vom 13.11.2019 die Zielsetzung des Gesetzes ebenfalls in zwei Säulen:

 

Die Impfpflicht wird durch das Gesetz mit der ersten Säule direkt gesteigert.

 

„Ziel des Gesetzesentwurfs ist es, die Impfpflicht deutlich zu steigern. Deswegen wird die Nachweispflicht eines ausreichenden Impfschutzes oder der Immunität gegen Masern…eingeführt.“

 

Auch hier sei auf die überall antreffende Ungenauigkeit von Formulierungen hingewiesen. Durch eine Immunität kann eine „Impfpflicht“ nicht erhöht werden.

 

In der zweiten Säule geht es um die Impfprävention.

 

„Der Gesetzentwurf sieht zudem ein Maßnahme- Bündel mit dem Ziel der Stärkung der Impfprävention vor.“

 

Hier geht es u.a. um Informationen und um „Mortalitäts- und Impfsurvaillance“. 

 

Reduziert man die Nachweispflicht auf die Informationspflicht, so löst sich das Problem von selbst. Ein indirekter Zwang ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Die Eltern teilen den Impfstatus ihrer Kinder mit wie diejenigen, die „geimpft“ melden, dann eben mit „ungeimpft“.

 

Mit dieser verfassungskonformen Auslegung der Nachweispflicht bei schulpflichtigen Kindern entfällt der Verwaltungszwang und auch ein Bußgeld nach § 73 Abs. (1a) Ziff. 7d IfSG. Denn es wurde dann ein gültiger Nachweis vorgelegt. Das ist eine elegante und alle Interessen berücksichtigende Lösung.

5. Verfassungskonforme Auslegung der „Kontraindikation“

 

Bei dieser Betrachtung befinden wir uns auf einer zweiten, unteren Ebene der Prüfung. Dazu kommt man nicht, wenn man der vorzitierten verfassungskonformen Auslegung der Nachweispflicht folgt.

Die nachfolgende Argumentation erfolgt also nur hilfsweise.

 

Eine Kontraindikation im Sinne des Gesetzes kann zum einen darin gesehen werden, dass die Schäden durch die Impfung selbst höher sind als die Gefahr durch die Masernerkrankung. 

 

Wenn das nachgewiesen ist, muss eine sofortige Reaktion durch das Rechtssystem erfolgen. Ein Abwarten auf den Gesetzgeber würde zu lange dauern und zu endgültigen Schäden führen. Gerichte können diese Beweise selbständig erheben und entscheiden.

 

Eine Kontraindikation ist auch der eigene Wille des Betroffenen, hier des schulpflichtigen Kindes bzw. dessen Eltern, die vom Gesetz gedeckt ist: Schulpflicht geht der Impfpflicht vor. Nur hat der Gesetzgeber eben vergessen, diese Kontraindikation zu formulieren. 

 

6. Mut für Exekutive und Judikative zur Änderung von Entscheidungen 

 

In der Corona-Zeit mussten wir erfahren, wie sich Prognosen des Gesetzgerbers schnell änderten. Das Bundesverfassungsgericht hat das in seiner Bundesnotbremseentscheidung auf den Punkt gebracht. Die Prognosen aus der Vergangenheit wurden akzeptiert, weil man es -angeblich- nicht besser wusste. Für die Zukunft konnten wegen der Prognosen aber früher noch verfassungskonforme Regelungen in die Verfassungswidrigkeit hineinwachsen bei neuen Erkenntnissen:

 

„Erweist sich eine Prognose nachträglich als unrichtig, stellt dies jedenfalls die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht in Frage…Die Eignung setzt also nicht voraus, dass es zweifelsfrei empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit der Maßnahmen gibt…“ (Rn. 186)

Dann kommt aber die Ausstiegsklausel und Steilvorlage für alle drei Gewalten:

 

„Allerdings kann eine zunächst verfassungskonforme Regelung später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen des Gesetzgebers nicht mehr tragen.“ (Rn. 186)

Diese Stelle hatte das VG Osnabrück bei seiner Vorlageentscheidung vom 3.9.2024 wohl aufgenommen (3 A 224/22). Alle Untergerichte können nach der Öffnung dieses Scheunentors und dieser Steilvorlage des BVerfG für mutige Richterinnen und Richter heute selbständig und selbstbewusst entscheiden. Das gilt auch für das Masern-schutzgesetz. Hier trug die Nachweispflicht als indirekte Impfpflicht aber von vorneherein nicht.

 

Dr. Josef Hingerl

Rechtsanwalt